Mittwoch, 11. Mai 2016

Kurzgeschichte - Tagtraum

Früh morgens habe ich das kleine Ferienhaus hier in einem schmalen Tal in Ostisland verlassen. Die Wolken hängen tief über den zerklüfteten Bergen, der Nebel hängt zwischen den schroffen Felsen. Ich schlage die Kapuze über den Kopf und binde die Wanderschuhe noch einmal zu. Leise höre ich das Meeresrauschen im Hintergrund, orientiere mich kurz und gehe los. Ich atme tief die feuchte frische Morgenluft an und gehe los.

Eine Zeit lang bleibe ich auf einer typisch isländischen Schotterstraße. Jetzt im Spätsommer ist sie ausgewaschen, mit Querrillen übersät. Nach einer Viertelstunde folge ich einem schmalen Pfad. Wohin wird er mich führen? Eins steht fest, weiter weg von der Zivilisation. Es geht bergauf, langsam folge ich dem Weg tiefer in die Berge. Eine schmale Schlucht taucht vor mir auf. An ihren Hängen liegen Schutthalden. Zeichen Millionen Jahre langer Erosion hervorgerufen durch Wind, Wasser und Kälte. Das Meeresrauschen hat einem Plätschern Platz gemacht. Ein kleiner Wildbach rauscht durch die Schlucht. An seinem Ufer entlang wandere ich tiefer hinein in dieses Labyrinth aus Stein und Erde. Weg von Menschen, weg von Sorgen. Ich fühle mich frei. Da ist kein Mensch dem ich Rechenschaft ablegen muss. Über mir reißt der Himmel auf. Die ersten zaghaften Sonnenstrahlen kämpfen sich durch das dunkle Grau, was hier und da nun Lücken aufweist. Hier in der Schlucht bleibt es dunkel, nass und kalt. Wo andere Menschen sich unwohl fühlen, sich von der Enge der Felsen erdrückt fühlen, fühle ich mich wohl, wohlbehütet von tausenden Tonnen Jahrmillionen alten Stein.
Plötzlich öffnet sich die Schlucht, gibt den Blick auf einen kleinen Kessel frei. Rundum von hohen Felsmauern umschlossen, fällt hier der Bach gut 10m in die Tiefe in ein kleines Wasserbecken, in dem sich das aufgewühlte Wasser erst beruhigt, um dann seinen letzten Weg über den Bach in den nahen Atlantik anzutreten. Tief atme ich ein. Genieße die Ruhe und Stille. 

Atme noch ein paar Mal mit geschlossenen Augen tief durch, um mich dann wieder im Alltag des Büros zurückzufinden. Meine Seele lächelt.

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