Donnerstag, 19. Mai 2016

Kurzgeschichte - Das Mädchen

Seit Stunden irrte sie durch die Straßen Berlins ohne wirklich darauf zu achten, wo sie entlang lief. Dutzende Male war sie mit anderen Passanten zusammengestoßen. Ihr war es egal. Auch als die Häuser grauer, dunkler wurden, die Fassaden mehr und mehr mit Graffiti besprüht waren, lief sie weiter. Mit ihrem feinen schwarzen Hosenanzug und der weißen Bluse passte sie überhaupt nicht in diese Gegend. Sie fiel auf, doch es interessierte niemanden. Sie hatte geweint. Eigentlich hatte sie gar nicht aufgehört zu weinen, seit sie das Büro Hals über Kopf verlassen hatte.
Dieser Anruf. Dieser eine Anruf hatte sie vollkommen umgehauen. Sie wollte es nicht begreifen. Sie konnte es nicht begreifen! Warum hatte er ihr das angetan? Warum ließ er sie so hängen? Er lief davon, weg von ihr. Flüchtete aus ihrer Ehe, flüchtete aus ihrem Leben, faselte irgendwas von einer Neuen. Alles hatte sie geopfert. Für ihn war sie in diese Stadt gezogen, die sie nicht leiden konnte. Für ihn hatte sie auf Kinder verzichtet. Nun war sie allein.
Sie lief weiter. Weg aus dieser Stadt. Weg von ihm. Versuchte vor ihren Gefühlen zu flüchten. Die Umgebung wurde immer trister. Die Häuser dreckiger und höher, enger aneinandergebaut. Wahrscheinlich würde sie sich noch bedrückender fühlen in dieser Häuserschlucht, doch sie nahm ihre Umgebung nicht war. Sie hassten ihn. NEIN! Sie liebte ihn. SIE LIEBTE IHN! Es schmerzte, es tat weh. Tränen liefen über ihr Gesicht! Von irgendwoher drang Kindergeschrei an ihr Ohr.


Plötzlich stand es da. Es war einfach aus einer Hecke gesprungen:

"BUH!"

Sie zuckte zusammen. Erschreckt blieb sie stehen, das Gesicht verschmiert von ihrem zerlaufenen Makeup. Sie rieb sich den Tränen aus den Augen und schaute das kleine Mädchen an. Es wahr vielleicht fünf oder sechs Jahre alt und stand einfach so da. Mit einem verschmitzten Lächeln im Gesicht schaute das Mädchen sie aus ihren großen, braunen Augen an.

"Hast du geweint?"

Diese einfache, von Herzen kommende Frage riss sie aus ihrer Erstarrung. Hunderte, eher tausende Menschen waren ihr auf ihrer Flucht durch Berlin begegnet und nur dieses kleine Mädchen hatte den Blick für das was war.

"Ja", antwortete sie!

"Warum?"

Dieses kleine Mädchen stand da, einfach so, und wartete auf eine Antwort.

"Bist du traurig?"

"Ja, das bin ich! Sehr sogar!"

"Warum?"

Sie konnte diesem unschuldigen Mädchen doch nicht ihr Herz ausschütten, ihr von der Ungerechtigkeit in ihrem Leben erzählen und trotzdem hörte sie sich sagen:

"Mein Mann hat mich verlassen...für eine andere Frau."

"Aber es gibt doch noch andere Männer."

Sie musste lächeln. Diese Unbekümmertheit dieses kleinen Mädchens tat so gut. Wie schnell verliert man doch den Blick eines Kindes, diese Leichtigkeit des Kindseins. War sie wirklich glücklich gewesen mit ihrem Mann oder hatten sie sich in ihrem Alltag so verloren.

"Ich gehe wieder spielen. Tschüss!"

Sie schaute auf. Ein letztes Lächeln konnte sie noch von dem Mädchen erhaschen, dass sie mit wenigen Worten aus ihrer Lethargie gerissen hatte.

"Tschüss", flüstere sie dem Mädchen hinterher. In dem Wissen, dass ihre Worte eh nicht mehr gehört würden.

Sie lächelte, lächelte von Herzen. Das erste Mal seit diesem Anruf. Sie war doch noch jung. Jung genug für ein Leben. Ein Leben, wie sie es sich vorstellte. Auf dem Land, in der Natur, weg von der Anonymität der Großstadt. Und mit Kindern! Dieser Wunsch, den sie seit Jahren unterdrückte. Sie würde es schaffen.

"Ich werde wieder ich!", flüsterte sie!

"ICH!"

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